Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Oesch / Campi
Beitritt der Schweiz zur EU

Prof. Dr. Matthias Oesch und David Campi, MLaw, Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, haben im September 2022 ein Buch mit dem Titel „Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union, Voraussetzungen, Verfahren, Ausnahmen, Staatsleitung, Volksrechte“, EIZ Publishing, veröffentlicht.

Das Buch will eine „informierte Diskussion“ über Themen anstossen, „welche bei einem EU-Beitritt der Schweiz im Fokus stehen“. Primär geht es um eine juristische Beurteilung der Fragen eines allfälligen Beitritts.

Bilateralismus versus Beitritt

„Der sogenannte bilaterale Weg auf der Basis sektorieller Abkommen ist der für die Schweiz massgeschneiderte Ansatz zur Gestaltung ihrer Beziehungen zur EU.“ Dieser Ansicht ist FDP-BR Cassis in seinem Bericht zur Aussenpolitik 2020 – 2023.

In früheren Mitteilungen an die Öffentlichkeit bezeichneten Bundesräte den Bilateralismus als Königsweg der Schweiz

Die Autoren Oesch / Campi vermerken in ihrem Buch, „dass sich die Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Weiterführung des bilateralen Wegs verschlechtert haben.“

Aus folgenden Gründen:

  • Der Entscheid des Bundesrats 2006, den EU-Beitritt nicht mehr als Ziel der schweizerischen Europapolitik zu verstehen, hat die Schweiz in die Kategorie «normaler» Drittstaaten degradiert.
  • Das Verständnis für den Sonderweg der Schweiz hat mit der Osterweiterung der EU abgenommen.
  • Die EU verlangt seit 2008 die Schaffung eines institutionellen Rahmens und betrachtet den Status quo nicht mehr als valable Option.
  • Der Brexit zeigt, dass die EU kein selektives Rosinenpicken mehr zulassen will.
  • Die EU will die eigenen Werte und Interessen global mit vereinten Kräften verteidigen und wird gegen Drittstaateninteressen resoluter auftreten.

Nach Ansicht der Autoren, wird die Schweiz längerfristig nicht darum herumkommen, ihr Verhältnis zur EU grundsätzlich zu überdenken.

EU als Gesetzgeber in der Schweiz

„Demokratiepolitisch ist die fortlaufende Übernahme von EU-Recht problematisch. Die Schweiz hat die Rechtsetzung in durchaus relevanten Bereichen faktisch an die EU delegiert.“ stellen die Autoren fest.

Weiter: „Für den autonomen Nachvollzug schätzen Studien, dass zwischen 40 % und 60 % der Bundesgesetzgebung direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst sind.“

Die Politik des Bundesrates, sektoriell am multilateralen Integrationsprojekt der EU teilzunehmen, ohne sich institutionell den gemeinsamen Regeln zu unterwerfen, stosse an Grenzen, meinen die Autoren.

Der ehemalige Staatssekretär Franz Blankart erklärte 1989, die institutionelle Satellisierung sei für die Schweiz keine Option. In dieser Sackgasse ist der Bundesrat indessen mit dem Bilateralismus gelandet: ein faktischer Beitritt zum europäischen Rechtsraum ohne Mitgliedschaftsrechte für die Schweiz.

Oesch / Campi setzen mit ihrem Buch einen Kontrapunkt zur Publikation Ambühl / Scherer, ETHZ, Bilaterale III, EIZ-Publishing, 2022. Ambühl / Scherer sind der Ansicht, der selektive Bilateralismus sei mit finanziellen Leistungen der Schweiz an die EU zu retten. Die EU werde der Schweiz Ausnahmen von den europäischen Regeln zugestehen, wenn sie dafür nur genug bezahle.

Das Thema Satellisierung ist mit erkauften Ausnahmen vom europäischen Rechtsraum nicht erledigt.

Andere Optionen

Die Reduktion der Beziehungen zur EU auf ein Freihandelsabkommen würde nach Ansicht der Autoren den Marktzugang erschweren. Schengen/Dublin und Personenfreizügigkeit würden dahinfallen. Dennoch müssten die Schweizer Unternehmen im Wettbewerb die EU-Standards einhalten.

Die EWR-Option halten sie nicht für erstrebenswert, vor allem wegen des fehlenden Mitentscheidungsrechts zu EU-Recht, das im EWR automatisch übernommen werden muss, und wegen des Einstimmigkeitsprinzips im EWR.

Die aktive Mitgestaltung der Zukunft im Verbund mit gleichgesinnten europäischen Staaten liegt nach Ansicht der Autoren im ureigenen Interesse der Schweiz. Die Option des EU-Beitritts sei daher zu prüfen.

Verhandlungsabbruch am 26.05.21

Am 26. Mai 2021 lehnte der Bundesrat ein fertig ausgehandeltes Institutionelles Abkommen ab. Gleichzeitig brach er unilateral die Verhandlungen mit der EU über dieses Thema ab.

Zur Rechtfertigung liess er mitteilen, beim Lohnschutz, bei der Unionsbürgerrichtlinie und bei staatlichen Beihilfen bestünden substanzielle Differenzen.

Die von der Regierung geltend gemachten Gründe sind auch im Kontext einer Beitritts-Debatte von grosser politischer Bedeutung.

Der Bundesrat verlangte vom EJPD einen Bericht über Regelungsunterschiede zum EU-Recht, ausserdem eine Analyse über Anpassungsmöglichkeiten. Alt EJPD-Staatssekretär Mario Gattiker lieferte den Bericht am 10. Januar 2022 ab.

Im Nachgang beauftragte der Bundesrat alt Staatssekretär Gattiker, bei Gewerkschaften, Arbeitgebern und Gewerbeverband zum Thema Lohnschutz eine innenpolitische Basis auszuloten. Bis anhin hatte er keinen Erfolg.

Lohnschutz

Die Gewerkschaften wollen – zusammen mit dem Gewerbeverband - für alle Zukunft ihr bisheriges Recht garantiert haben, gegen staatliche Entschädigung (ca. 8 Mio. p.a.) Handwerksbetriebe der Nachbarländer zu kontrollieren, wenn diese in der Schweiz tätig werden. Das bezeichnen sie unter dem Label „Lohnschutz“ als ihre rote Linie.

In Angst um ihre vorteilhaften Kontrollrechte wollen sie nichts vom EuGH wissen. Der EuGH könnte zum Schluss kommen, die Kontrolle ausländischer Betriebe durch die inländische Konkurrenz (Gewerkschaften und Gewerbeverbände) sei im Binnenmarkt diskriminierend. Staatliche Organe müssten – wie in den EU-Ländern - unparteiisch die Kontrollen durchführen.

Alt Staatssekretär Gattiker stellt in seinem Bericht vom 10.01.22 fest, materiell-rechtlich seien die EU-Entsenderegeln und die CH-Entsenderegeln „weitgehend vergleichbar“. Unterschiedlich seien Kontrollorganisation und Kontrollsystem. D.h. es geht faktisch um die rote Linie der Gewerkschaften.

Oesch / Campi befassen sich in ihrem Buch nur marginal mit diesem primären Grund des Verhandlungsabbruchs vom 26. Mai 2021. Der Bundesrat hat die protektionistische rote Linie der Gewerkschaften ungeprüft übernommen.

Die Autoren erwähnen die Forderung der SP, die Frage des Lohnschutzes und dessen Durchsetzung müsse in der Zuständigkeit der Innenpolitik bleiben. Sie stellen dazu nur fest, es sei nicht davon auszugehen, dass die EU in diesem Bereich der Schweiz dauerhaft Sonderregeln zugestehen würde.

Es wäre von Interesse zu erfahren, ob das geltende CH-Kontrollsystem mit der Delegation staatlicher Kontrollbefugnisse an private Verbände der Konkurrenten als verhältnismässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit nach Bundesverfassung und in die Binnenmarkt-Freiheit nach Freizügigkeitsabkommen (Art. 2 und 5 FZA) beurteilt werden kann.

Die Gewerkschaften behaupten, im Zweifelsfall gebe der EuGH dem ungehinderten Marktzugang gegenüber Arbeitnehmerrechten den Vorrang. Eine sorgfältige rechtliche Beurteilung der EuGH-Rechtsprechung wäre nützlich.

Unionsbürgerrichtlinie

Der Bundesrat lehnte am 26. Mai 2021 apodiktisch Regelungen im Kontext der Unionsbürgerrichtlinie betreffend den Zugang in der Schweiz wohnender EU-Bürger zur CH-Sozialhilfe ab.

Er stört sich daran, dass bei einer allfälligen Pflicht der Schweiz, die Unionsbürgerrichtlinie (2004/38/EG) anzuwenden, EU-Bürger in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit mit Wohnsitz Schweiz CH-Sozialhilfe erhalten könnten.

Nach Berechnungen von Avenir Suisse geht es um mögliche Mehrkosten von CHF 75 Mio. p.a. Das erachtet der Bundesrat für die Schweiz als unzumutbar, weshalb das Institutionelle Abkommen abgelehnt werden müsse. Er übernahm auch in diesem Punkt die Ansicht der Gewerkschaften und des Gewerbeverbandes. Die Schweiz würde andernfalls von Sozialtourismus bedroht.

Oesch / Campi befassen sich in ihrem Buch nicht mit Rechtsfragen betreffend eine allfällige Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie in der Schweiz. Sie beanstanden unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit (Artikel 8 BV) lediglich dass in die Meinungsbildung der Regierung nur die Sozialpartner und die Wirtschaftsdachverbände einbezogen wurden, andere interessierte Kreise aber nicht.

Eine sorgfältige Abklärung rechtlicher und ökonomischer Folgen für das CH-Sozialhilfe-System im Fall einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie wäre notwendig, da die politische Debatte von Vorurteilen und nicht von Fakten dominiert wird.

Alt Staatssekretär Gattiker hat die Frage nicht behandelt, weil der Bundesrat ohne weitere Begründung erklärt hatte, eine Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie bleibe von vorneherein ausgeschlossen, weshalb keine Abklärungen notwendig seien.

Staatliche Beihilfen, Subventionen an Unternehmen

Staatliche Beihilfen (Subventionen) sind staatliche Leistungen, die selektiv einzelnen Unternehmen oder Branchen gewährt werden, in Form von Betriebsbeiträgen, Investitionsbeiträgen, finanziellen Zusagen, Darlehen, Beteiligungen, Bürgschaften, Garantien, Waren und Dienstleistungen zu Vorzugsbedingungen, Sonderrechten ohne Ausschreibung, Forderungsverzichten, Steuerbefreiungen, Steuererleichterungen, Abgaben- und Gebührenbefreiungen, u.ä.

Im europäischen Binnenmarkt gilt ein Subventionsverbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die EU-Kommission kann Ausnahmen bewilligen, was im Rahmen der europäischen Gesetzgebung auch immer wieder geschieht.

Das grundsätzliche Subventionsverbot will einen fairen Wettbewerb der Unternehmen im Binnenmarkt gewährleisten. Nach EU-Recht sind staatliche Beihilfen geeignet, den Wettbewerb auf einem Markt und den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beinträchtigen.

„Abgesehen von den staatlichen Beihilfen im Luftverkehrsbereich, gibt es in der Schweiz keine Rechtsgrundlage für eine Überwachung von staatlichen Beihilfen, die mit derjenigen der EU vergleichbar wäre“ stellt alt Staatsekretär Gattiker in seinem Bericht vom 10.01.22 fest.

Die Schweiz kennt eine Vielzahl wettbewerbsverzerrender Subventionen für Unternehmen und Branchen. Auf Bundesebene hat der Bundesrat in einem Bericht vom 24.11.21 248 Einzelposten im Umfang von über CHF 50 Milliarden ausgemacht.

Dazu kommt eine unüberschaubare Menge an Subventionen auf Kantons- und Gemeindeebene.

Treten in der Schweiz Probleme oder Konflikte auf, werden sie aufgrund der herrschenden Konsenskultur politisch oft mit Subventionen abgedämpft.

Das Freihandelsabkommen CH-EU 1973 enthält in Artikel 23 ein grundsätzliches Verbot wettbewerbsverzerrender staatlicher Beihilfen. In den Artikel 94, 96, 97 der Bundesverfassung ist die Rede vom Schutz des Wettbewerbs. Wirksame Instrumente gegen wettbewerbsverzerrende Subventionen existieren indessen in beiden Fällen nicht.

Das ausgehandelte Institutionelle Abkommen sah vor, dass jede Partei in ihrem Gebiet die staatlichen Beihilfen kontrolliert. In der Schweiz hätte eine entsprechende Bundesbehörde eingerichtet werden müssen.

Der Bundesrat lehnte am 26. Mai 2021 für die Schweiz Massnahmen gegen wettbewerbsverzerrende Subventionen ab.

Oesch / Campi äussern sich in ihrem Buch nicht zum EU-Beihilferecht und dessen Konsequenzen für die schweizerische Subventionspraxis. Das Thema ist indessen von einigem Gewicht, da es in der schweizerischen Politkultur auf allen drei Staatsebenen eine bedeutende Rolle spielt.

Euro und Neutralität

Ausführlich erörtern die Autoren die Konsequenzen eines Beitritts für den Schweizer Franken und die Neutralität.

Dänemark wurde mit dem Vertrag von Maastrich dauerhaft von der Verpflichtung befreit, den Euro als Währung einzuführen.

Oesch / Campi sind der Ansicht, es wäre Gegenstand der Beitrittsverhandlungen, die EU von einer dauerhaften Ausnahme für den Schweizer Franken zu überzeugen. Es scheint ihnen aber fraglich, ob eine dauerhafte Ausnahme auch mittel- und langfristig nachhaltig wäre.

Die Neutralität der Schweiz ist keine aussenpolitische Notwendigkeit, wohl aber ein innenpolitisches Tabu. In der Vergangenheit diente sie innenpolitisch dazu, ein Auseinanderbrechen der Schweiz zu verhindern, wenn europäische Mächte, insbesondere Deutschland und Frankreich, gegeneinander Krieg führten.

Im Falle eines EU-Beitritts könnte die Schweiz eine Neutralitätserklärung abgeben oder eine solche im Beitrittsvertrag vereinbaren, um ihren Status abzusichern.

Mit einem Beitritt würde nach Ansicht der Autoren der Druck allerdings steigen, Hand zu bieten für ein gemeinsames und resolutes Vorgehen aller EU-Mitgliedstaaten gegen völkerrechtswidriges Handeln.

Die Lage der Schweiz im Ukrainekrieg belegt indessen, dass dieser Druck auch besteht, wenn die Schweiz nicht Mitgliedstaat der EU ist. Sie muss – nolens volens – die Sanktionen der EU gegen Russland mittragen und hat einen geringeren Handlungsspielraum das Sanktionsregime zu beeinflussen als wenn sie EU-Mitglied wäre. Zumal in diesem Politikfeld Entscheide im EU-Rat oft Einstimmigkeit voraussetzen.

Souveränität

Im 19. Jahrhundert entstand auf dem europäischen Kontinent der völkische Nationalismus. Sein rechtliches Konzept ist die absolute Souveränität des Nationalstaates. Deshalb erfreut er sich damals wie heute besonderer Wertschätzung bei Autokraten, Diktatoren und rechtsnationalen Parteiführern. Er befreit staatliche Machthaber von allen äusseren Bindungen.

Der Nationalismus entfachte im 20. Jahrhundert in Europa zwei Weltkriege mit Millionen Toten.

Zweck der Gründung der Europäischen Union nach dem 2. Weltkrieg war und ist die Überwindung des Nationalismus in Europa. Das Mittel dazu war die Schaffung eine eines europäischen Rechtsraums mit gemeinsamen Regeln. Dieses Konzept erträgt weder Autokraten noch Diktatoren.

Legitimierende Träger des gemeinsamen Rechtsraums sind einerseits die Mitgliedstaaten und anderseits die europäischen Bürger. Sie setzen die Organe ein, welche die gemeinsamen Normen erlassen und durchsetzen. Das sind das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof.

Mit den gemeinsamen Regeln haben die Mitgliedstaaten und die europäischen Bürger im Vertrag über die Europäische Union (EUV) die EU auf eine demokratische und rechtsstaatliche Struktur mit Grundrechten für die Bürger und Gewaltenteilung in den Organen verpflichtet.

Die EU hat den Charakter einer supranationalen Rechtsgemeinschaft. Sie schafft gemeinsamen Regeln, welche die Mitgliedstaaten auf ihrem Territorium durchsetzen müssen.

Ohne Möglichkeit, die gemeinsamen Regeln in allen Mitgliedstaaten durchzusetzen, könnte die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft nicht funktionieren und wäre kein geeignetes Instrument, den Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Europa zu überwinden. Auseinandersetzungen mit Gewalt wären – wie vor dem 2. Weltkrieg – wieder an der Tagesordnung.

Die nationale Souveränität als Rechtsgrundlage des Nationalismus des 19. Jahrhunderts wird durch eine von den Mitgliedsländern im europäischen Rechtsraum geteilte Souveränität abgelöst. Das ist das Mittel zur Vermeidung nationalistischer Gewaltausbrüche auf dem Kontinent.

Die Autoren Oesch / Campi sehen ein wesentliches Merkmal des EU-Rechts darin, dass es im nationalen Recht automatisch gilt und im Fall einer Kollision unbedingten Vorrang beansprucht.

Sie bestätigen damit den gemeinsamen europäischen Rechtsraum und die in diesem Rechtsraum von den Mitgliedstaaten geteilte Souveränität.

Was nicht funktioniert, ist die Vorstellung des aktuellen Bundesrats, die Schweiz könne im Bilateralismus souverän nach eigenem Gusto die europäischen Regeln wählen, die sie einhalten oder nicht einhalten möchte.

Demokratie

In der nach 1815 gewachsenen Staatenstruktur Europas steht heute einer geringen Zahl Grossstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen) eine grosse Zahl mittlerer und kleiner Staaten gegenüber. Die Einwohnerzahl von Malta, Luxemburg, Zypern und Estland zusammengerechnet ist geringer als die Einwohnerzahl der Stadt Berlin mit 3.6 Mio. Einwohnern.

Dieser historischen Struktur muss der Vertrag über die Europäische Union (EUV) bei der Ausgestaltung der Machtverteilung Rechnung tragen.

Nach EUV sind in den demokratischen Entscheidverfahren aller EU-Organe die Bürgerinnen und Bürger der kleinen Länder deutlich überrepräsentiert.

  • „Die Bürgerinnen und Bürger sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten. Kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze.“ (Artikel 14/2 EUV).
  • „Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission.“ (Artikel 15/2 EUV).
  • „Die Mitglieder der Kommission werden unter den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einem System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten so ausgewählt, dass das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt.“ (Artikel 17/5 EUV).
  • „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat.“ (Artikel 17/5 EUV).

Diese Regeln, die vom strengen Prinzip der Wahlgleichheit abweichen, bezwecken einen Minoritätenschutz und lassen sich durchaus vergleichen mit den föderalen Regeln zur Wahl des Ständerats und des Nationalrats in der Schweiz.

Die Autoren Oesch / Campi beklagen die fehlende Wahlgleichheit in der EU als Demokratiedefizit. Indessen ist auch in der Schweiz die Wahlgleichheit „als essentielle Voraussetzung demokratischer Teilnahme" nicht verwirklicht. In Appenzell Innerrhoden entfällt auf 16‘000 Einwohner ein Ständerat und – in Verfassungsabstimmungen – eine Standesstimme, im Kanton Zürich auf 760‘000 Einwohner.

Weiter beklagen sie – mit andern – ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union, weil der Europäische Rat (die „Ländervertretung“) ein Übergewicht in bestimmten Politikbereichen hat. Das gilt indessen beispielsweise auch für den amerikanischen Senat.

Schliesslich wird beanstandet, dass im Gesetzgebungsverfahren nur die EU-Kommission, nicht aber das EU-Parlament und der EU-Rat ein Initiativrecht haben. Faktisch steht beispielsweise auch im UK-Parlament nur der Regierung ein solches Initiativrecht zu.

In landesinternen Debatten wird auch andernorts der EU gerne ein Demokratiedefizit attestiert, in der Meinung, nur im eigenen Land existiere eine richtige Demokratie.

Volksrechte

Ausführlich befassen sich die Autoren Oesch / Campi mit den Volksrechten, Referendum und Initiative.

Sie sind der Ansicht, ein EU-Beitritt verschärfe das Spannungsverhältnis zwischen direkter Demokratie und europäischer Integration, weil das supranationale EU-Recht unbedingten Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht beanspruche.

Volkssouveränität und Volksrechte werden in der Schweiz in breiten Kreisen absolut verstanden. Entscheide von Volk und Ständen stehen nach rechtsnationaler Ideologie über dem Völkerrecht. Die Schweiz ist nach dieser Weltanschauung frei, nach Gutdünken völkerrechtliche Verträge einzuhalten oder eben nicht einzuhalten.

Auf dieser Idee basiert der Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Rechtsnationale Parteien in allen europäischen Ländern wollen dorthin zurück, auch die einheimischen Rechtsnationalen.

Die Überwindung des Nationalismus in Europa ist für sie kein politisches Ziel. Im Gegenteil – die Rechtsnationalen wollen den Nationalismus mit übersteigerten Vorstellungen von Volkswille, Volksgesundheit und Volksouveränität wieder aufleben lassen. Ihre Führer wollen die Zugehörigkeit zum Volk und die Fremdköper im Volk definieren. Sie wollen selbst den Volkswillen, den es nicht gibt, repräsentieren.

Ihre Anhänger bevorzugen für die Lösung von Konflikten zwischen Nationalstaaten militärische Massnahmen. Einen gemeinsamen europäischen Rechtsraum lehnen sie ab.

Unbeschränkte Machtausübung über einzelne Menschen ist in einem absolut souveränen Nationalstaat deutlich einfacher, als in einem europäischen Rechtsraum, der den Grundrechten und der Gewaltenteilung verpflichtet ist. Mittels völkischer Propaganda können Machthaber ohne Einfluss von aussen die Massen bewegen und Minoritäten und missliebige Individuen unter Druck setzen.

Das Spannungsverhältnis von Referendum und Initiative zur europäischen Integration besteht nur, wenn und soweit ein gemeinsamer europäischer Rechtsraum abgelehnt wird.

Dass in einem Rechtsraum von 27 Mitgliedstaaten und 450 Mio. Einwohnern nur eine repräsentative und keine direkte Demokratie funktionieren kann, liegt auf der Hand.

Dem einzelnen europäischen Bürger – unter Einschluss der Schweizerinnen und Schweizer – ist mit einer stabilen repräsentativ-demokratischen rechtstaatlichen Ordnung, Grundrechten, Gewaltenteilung und den vier Freiheiten des EUV mehr gedient als mit direktdemokratischen Instrumenten auf europäischer Ebene.

Anders als EU-Bürgern ist CH-Einwohnern bei Verletzung des Binnenmarktrechts der Rechtsweg zum EuGH verwehrt, was die Gewaltenteilung missachtet. Der Bundesrat lehnt im Bilateralismus die europäische Rechtsprechung ab. Die Einhaltung der Gewaltenteilung wäre für CH-Einwohner nützlicher als Referenden und Initiativen über europäisches Recht.

Im Falle eines Beitritts behalten Referendum und Initiative ihre Funktion vollständig bei, soweit beschlossene Regeln nicht mit gemeinsamen Regeln des europäischen Rechtsraums kollidieren.

Innerschweizerisch ist dieses Verständnis Allgemeingut: Referenden und Initiativen auf Gemeinde- und Kantonsebene können das Bundesrecht nicht ändern. Bezüglich dem Verhältnis zum EU-Recht braucht es keine Änderung der direktdemokratischen Instrumente. Die Anerkennung des Vorrangs des EU-Rechts durch Parlament, Regierung und Gerichte genügt.

Bei Nicht-Anerkennung bleibt der Schweiz im Fall des Bilateralismus wie im Fall eines Beitritts jederzeit das Recht, per nationalem Volksbeschluss aus dem europäischen Rechtsraum auszutreten. Grossbritannien hat diesen Schritt getan, in Erwartung neuer nationaler und imperialer Grösse. Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt - im Gegenteil.

Oesch / Campi empfehlen, die direktdemokratischen Stellschrauben im Falle eines Beitritts erst dann neu zu justieren, wenn sich Anpassungen nach einer ersten Phase der Angewöhnung an die neuen Rahmenbedingungen und der Erfahrungssammlung als unumgänglich erweisen sollten. Dem kann man nur zustimmen.

Fazit

Das Buch von Oesch / Campi ist ein wertvoller Beitrag zur schweizerischen Europapoltik.

Es zeigt auf, dass der Bilateralismus keine zukunftsfähige Lösung ist. Die Schweiz wird zur Aussenseiterin in Europa und muss als "rule taker" dennoch über die Verträge oder im Nachvollzug die europäischen Regeln und Beschlüsse ohne jedes Mitbestimmungsrecht übernehmen.

Das Buch macht die Beitrittsoption wieder zum Diskussionsgegenstand. Die damit zusammenhängenden Rechtsfragen werden transparent und schlüssig dargelegt. Für offene Fragen werden sachgerechte Lösungen angeboten.

Der Beitritt der Schweiz zur EU ist kein Rechtsproblem. Er ist eine Frage des politischen Willens und der sachgerechten Information durch Regierung und Parlament gegenüber der Bevölkerung. Beides ist heute nicht vorhanden.

Zur sachgerechten Information leistet das Buch einen gewichtigen Beitrag.

Laut den Autoren Oesch / Campi betrachtet der Bundesrat den Beitritt zurzeit als eine europapolitische Option unter mehreren. „Nicht mehr, aber auch nicht weniger!“

Es ist fraglich, ob diese Einschätzung für den Bundesrat in seiner aktuellen Zusammensetzung gilt. Die SVP/FDP-Mehrheit in der Regierung folgt der rechtsnationalen Weltanschauung und lehnt den Beitritt ab.

06.11.2022

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